Zieleinlauf Tag 6: Der Härteste
Interessanterweise haben mich auch bei diesem Rennen wieder sehr viele im Nachhinein gefragt, was der härteste Moment gewesen ist. Fast niemand fragt danach, was am Schönsten war. Nun ja, es gab so viele Highlights, dass ich mir ohnehin schwer tun würde, EINES hervorzuheben. Es ist aber auch schwierig, den härtesten Punkt zu bestimmen.
Auf acht Etappen über die Alpen erlebt man so manche harte Situation, teils körperlich, teils mental. Wenn ich aber einen Tag bestimmen müsste, wäre es wohl der sechste: Bei diesem Zieleinlauf musste ich sehr genau aufpassen, die Nerven nicht völlig zu verlieren. Hier habe ich gelernt, dass man selbst damit fertig werden muss, wenn man an seine Grenzen kommt. Natürlich können dich andere dabei unterstützen, dir gut zureden. Aber damit umgehen musst du selbst. Das kann dir keiner abnehmen.
Schon der Start im Samnaun fiel uns etwas schwer. Petra war von Schmerzen in der Fußsohle geplagt und es standen uns 40,5 km, knapp 2300 hm bergauf und 2900 hm bergab bevor. Das schlug sich auf die Stimmung. Ich hatte am Morgen noch gar nicht allzu große körperliche Schmerzen, aber trotzdem war dieser Start anders als die anderen, ein mulmiges Gefühl. Im Nachhinein hat uns auch Fredl gesagt, dass unsere Anspannung nicht zu übersehen war.
Wir ließen es langsam angehen, waren schnell im hinteren Feld und marschierten ziemlich schweigsam vor uns hin. Das Wetter passte zur Stimmung: grau, kühl, nebelig. Über das Zeblasjoch ging es auf den Firnbergpass, die Aussicht wäre bei schönem Wetter fantastisch gewesen. Ich spürte bald mein rechtes Knie wieder ziemlich, wollte diese Schmerzen aber nicht allzu präsent werden lassen.
Obwohl wir mit den anderen Läufern immer wieder nett ins Reden kamen, löste sich die Anspannung in meinem Kopf nicht so ganz. Es kann natürlich an meiner subjektiven Wahrnehmung liegen, aber auch bei den anderen Teams hatte ich oft den Eindruck, dass es nicht ganz „rund“ lief. Einige waren gestolpert, kämpften mit den Tränen, waren nicht ganz so gut drauf wie gewohnt.
Als wir die zweite Labestation erreichten, kam die Sonne heraus. Das tat gut. Frisch gestärkt ging es weiter. Allerdings für mich nicht lange. Ich wurde plötzlich so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen hätte können. Zum ersten Mal bekam ich Probleme mit dem Kreislauf. Dabei kam mir mein Körper gar nicht so erschöpft vor. Es war wirklich eher der Kopf, der sich ziemlich plagen musste. Zwei Cola-Shots später ging es zum Glück wieder besser. Bald wurde es wieder frischer und ziemlich windig, was die Müdigkeit endgültig vertrieb.
Umgeben von einer beeindruckenden, steinigen Bergkulisse ging es immer weiter hinauf Richtung „Fuorcla Champatsch“, ein Pass, den es noch zu überqueren galt.
„Sollen wir vielleicht die Regenjacken anziehen?“ Dieser Vorschlag von Petra kam genau zur richtigen Zeit. Denn schon bald wurde das Nieseln ein Regnen, das Regnen ein Hageln. In der Ironie dieser Situation musste ich zu lachen beginnen.
Hieß es bei uns die letzten Tag öfters „Herr, lass Knie regnen“ oder „Herr, lass neue Fußplatten regnen“, flehten wir heute nur mehr „Herr, hilf“ 😉
Es blitzte und donnerte ziemlich laut. „Somebody ordered ice but forgot to order the drinks“ meinte ein Läufer vor uns. Jetzt musste ich noch mehr lachen.
Unglaublich war, dass der Streckenchef auch diesmal, bei diesen wirklich sehr harten Bedingungen, wieder genau dort stand: Am höchsten Punkt, an der unangenehmsten Stelle des gesamten Tages. Bei Kälte, Wind und Regen.
Und er lächelte, motivierte uns, läutete mit seiner Kuhglocke.
Und gab damit enorm viel Kraft.
Hagel und Gewitter verzogen sich zum Glück bald wieder, der Regen und die Kälte blieben. Wir hatte noch etwas mehr als 10 km bergab vor uns. Das ist zu schaffen. Ich hatte schon lange aufgegeben, Lacken und Gatsch zu vermeiden. Meine Schuhe waren selbst schon ein See. Nur nicht ausrutschen, das war jetzt das Wichtigste. Man wird ziemlich genügsam. 😉
Wir erreichten die letzte Labestation, an der wir von den Helfern herzlich empfangen wurden. Wir trafen ein paar Bekannte und trotz aller Umstände hatte jeder noch ein paar positive, motivierende Worte für den anderen. Die warme Tomatensuppe war herrlich. Meinen Trinkbeutel befüllte mir zum Glück eine Helferin. Meine Hände waren so kalt, dass ich es nicht schaffte. Petra musste mir sogar den Rucksack schließen.
Wir rannten weiter. Es schüttete weiter. Immer wieder rutschte jemand aus, aber zum Glück verletzte sich keiner wirklich. Ein Spanier brachte Petra und mich teilweise so sehr zum Lachen, dass wir direkt stehen bleiben mussten. Bei jeder zweiten Kurve landete er auf dem Boden, hatte aber trotzdem sichtlich Spaß am Downhill. Auch seine Partnerin bog sich immer wieder vor Lachen. Humor ist einfach alles 🙂
Irgendwann hatten wir es geschafft, die Rutschpartie hinter uns zu lassen. Die letzten Kilometer auf Asphalt waren eine sehr willkommene Abwechslung. Wir erreichten Scuol, ein wunderschönes Dorf in den Schweizer Alpen.
Der Zieleinlauf war beeindruckend: Über eine lange Holzbrücke ging es über den Inn, der tief unter uns floss. Und am Ende der Brücke? Da standen unsere zwei Mamas 🙂
Den ganzen Tag waren wir schon gespannt gewesen auf diesen Moment. Sie hatten den weiten Weg auf sich genommen, um uns die letzten Stationen unseres Abenteuers zu begleiten. Ein unbeschreiblicher Pulsmoment. Wir liefen die letzten Meter bis ins Ziel und weiter – beide in die Arme unserer Mamas. In diesem Moment ließ die Anspannung des Tages komplett los. Die Tränen flossen und flossen. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen.
Endlich im (wunderschönen!) Hotel angekommen trafen wir Fredl und Richard wieder, die schon eine ganze Weile vor uns angekommen sein mussten, weil sie schon geduscht, trocken und ausgeruht in der Gaststube saßen 🙂
Ich konnte kaum 3 Worte sagen, bevor die Tränen schon wieder flossen. Erschöpfung und Erleichterung, das waren wohl die Gründe dafür. Die Hotelchefin war ein Engel – sie kümmerte sich um unsere nassen Sachen, sammelte die Schuhe , die wir vor lauter Dreck selbst fast nicht angreifen wollten, ein und brachte sie in den Trockenraum. Ein weiterer – zum Glück aber der letzte 🙂 – Grund für mich, dass die Tränen weiterflossen.
Nach einer heißen Dusche schaute die Welt wieder anders aus. Und nach einem kleinen Bier mit Petra, unseren Mamas, Fredl und Richard in der Hotelbar schaute sie noch besser aus.
Zur Pastaparty ging es mit der Gondel und es war einfach nur herrlich, zu sitzen und zu essen. Ich glaube, dass an diesem Tag jeder sehr erleichtert war, das Ziel erreicht zu haben. Nach der Siegerehrung, Fotos und Video des Tages machten wir uns wieder auf den Weg zurück ins Tal.
Die letzte Sorge des Tages war die versäumte Physio-Einheit. Wir hatten es zeitlich aufgrund des weiten Weges zur Pastaparty nicht geschafft. Weil unser Hotel ganz in der Nähe der Outdoor-Physios war, versuchten wir unser Glück einfach und fragten nach, ob sie uns noch einschieben könnten. Taten sie. Vielleicht, weil wir so verzweifelt aussahen 🙂
Jedenfalls war ich unendlich froh darüber. Morgen warteten 45 km auf uns und meine Beine wurden heute sehr strapaziert. Da war es auf jeden Fall wichtig, dass sie vom Profi nochmals inspiziert wurden. Aber nicht nur das. Es war jedes Mal unheimlich beruhigend zu hören, dass auch der nächste Tag locker zu schaffen sei. Dass die vorhandenen Schmerzen völlig normal seien. Dass die Muskeln eigentlich noch erstaunlich fit seien…
Ich bin ja fast überzeugt, davon dass diese Aussagen zum Standard-Wortschatz – wenn nicht sogar zur beruflichen Pflicht – bei solchen Bewerben gehören 🙂
Geholfen haben sie auf jeden Fall 🙂
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2 Antworten auf „Transalpine Run 2019 – Etappe 6“